Wednesday, February 20, 2013

Der Fall (von Nikolas Moret)


Der Fall

Alles war eine Abfolge von Gängen und Treppen, die in viereckige Säle führten, zu denen andere Gänge und Treppen führten.  Jeder Saal war nichts anderes als ein Schnittpunkt von Gängen, die sich dann in Treppen verwandelten, deren Anstieg ihrerseits in anderen Gängen endete, die in wieder andere Säle führten.  Das Verlaufsspektrum war unendlich.

Die Gänge waren entweder ganz schwarz oder ganz weiss. Die Böden und Decken waren voller Zeichen ohne Sinn, die von Sprachen stammten, die nicht einmal dem weisesten der Sterblichen bekannt waren.  Jeder Gang hatte seine eigene Ordnung der Inschriften, die unbegreifliche Formen ohne Zusammenhang bildeten, denen jede Verbindung fehlte.  An den Wänden der Gänge hingen rahmenlose Bilder; weisse Leinwände, noch ganz rein, ohne jeden Strich.

Die Treppen gingen immer nach oben und nie nach unten. Die Stufen waren abwechselnd weiss und schwarz, weiss und schwarz; manchmal schwarz und weiss, schwarz und weiss.  Die Wände trugen kreisförmige Spiegel, die keine Bilder reflektierten.  Die Spiegel hatten keine Rahmen, wie die weissen Leinwände in den Gängen.

Die Säle hatten weisse Böden und Decken, und schwarze Wände.  In der Mitte eines jeden brannte ein Feuer ohne Flammen, das ein weisses Licht in alle Richtungen verströmte, das keine Schatten warf.  Von den Decken hingen unzählige Buchstaben, die sich nicht zu Wörtern formen liessen.  Alle Säle waren gleich; alle waren alles, und alle waren nichts.

Aber er wollte Schatten sein, ohne Namen und ohne Sinn, und stieg eine Treppe hinauf, die zu einem Gang führte, zu einem Saal, zu einer anderen Treppe, zu einem anderen Gang, zu einem anderen Saal.  Er war es leid, immer weiter und weiter zu steigen.  Er war es leid, seinen Namen nicht zwischen den Zeichen zu finden.  Er war die leeren Bilder leid.  Er war es leid sein Abbild nicht in den Spiegeln zu sehen.  Er war das Weiss und Schwarz leid, und das Schwarz und Weiss.  Er war es leid, ohne Namen und Sinn umherzuirren, immer zu steigen, immer zu steigen.

Er wusste vom Fall und wusste, dass beim Fallen die Gänge, Treppen und Säle ein Ende haben würden.  Er wusste, dass er niemals mehr aufsteigen würde.  Er wusste, dass der Fall in einem runden türenlosen Raum, mit roten Wänden, rotem Boden und roter Decke, enden würde.  Mit gerahmten Bildern voller Sinn, und einem grossen flammenden Feuer in der Mitte, das Schatten in allen Formen und keiner Form warf.  Er musste runter und nicht mehr rauf.

Er musste fallen, er musste der Abfolge von Gängen, Treppen, Sälen, Gängen, Treppen, Sälen, endlich entkommen.  Er musste in den roten Raum fallen, um in den Flammen zu brennen, die seinen Namen in dem goldgerahmten Spiegel gegenüber formen würden, und so die Wiederspiegelung seiner Seele einmal zu sehen und nie wieder aufzuwachen.

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